Das Leben in Berlin

Schon über einen Umzug nach Berlin nachgedacht? Machen ja dieser Tage viele. Aber Vorsicht! Das Ankommen in der deutschen Hauptstadt fordert Talent zur Verrohung. Eine Anleitung in zehn Schritten.

Zumindest in einem Punkt sind sich die „New York Times“, Klaus Wowereit und die Partytouristen im „Berghain“ einig: Berlin hat eine gewaltige, globale Sogwirkung. Allerdings gleicht die deutsche Hauptstadt genaugenommen einer Saugpumpe. So sind vergangenes Jahr zwar rund 88.000 Menschen dorthin gezogen, im selben Zeitraum spuckte Berlin aber auch 52.000 Menschen wieder aus. Die Bevölkerung der Stadt wächst zwar seit 2010 jährlich um ein Prozent, aber Berlin kann und will nicht jeder. Wer dauerhaft ankommen, vielleicht gar Überzeugungsberliner werden möchte, sollte dringend ein paar Dinge über den Ort lernen.

Das folgende Zehn-Punkte-Trainingsprogramm basiert auf historischem Material, empirischen Studien und Gruppendiskussionen mit ganz unterschiedlichen Berlinern, von Taxifahrern bis zu türkischen Friseurlehrlingen.

1. Die ersten Wochen sind die härtesten

In seinem Roman „Imperium“ lässt der Autor Christian Kracht seine Leser daran teilhaben, wie die Hauptfigur, ein zivilisationsmüder Nürnberger, Ende des 19. Jahrhunderts ausgerechnet in Berlin landet, dieser „in den märkischen Sand eingerammten Reichshauptstadt“. Der Franke erschrickt angesichts der „gleichgültigen Trostlosigkeit“ und der Leibspeise der Berliner, „einer meist aus Abfällen und schimmligem Mehl bestehenden Bratwurst“. Der Besuch bestärkt ihn darin, aus dieser „vulgären, grausamen, vergnügungssüchtigen Gesellschaft“ Richtung Südsee zu fliehen.

Heute gibt es in Berlin ein Currywurstmuseum. Längst sind auch die Prä-Wende-Zeiten Geschichten, in denen Mütter aus der westdeutschen Provinz hemmungslos weinten, als sie ihre Töchter erstmals in deren verrotteten Kreuzberger Altbauten besuchten. Heute bauen Immobilienentwickler Wohnkomplexe, die sich Palais (Französische Straße 56–60) oder Residence (Bernhard-Weiß-Straße 1) nennen, und die Eltern ziehen nach der Verrentung den erwachsenen Kindern hinterher. Gerade hat das Magazin „Stern“ Berlin per Titelgeschichte zur „coolsten Hauptstadt der Welt“ erklärt. „Sei Berlin“, fordert die offizielle Stadtkampagne, als sei der Ort ein Mitmachspiel für alle von acht bis 88.

Wer im Jahr 2014 mit Berlin fremdelt, gilt schnell als Spießer. Doch aller Anfang ist dort schwer wie eh und je. Der offiziellen Euphorie zum Trotz erleben viele Zugezogene die neue Heimat als Zumutung. Graffiti, Hundekot, als Park geadeltes Gestrüpp, vorlaute Taxifahrer, ätzende Vermieter – etliche Neuberliner erleiden in den ersten Wochen immer noch einen Wirklichkeits-Schock. Der wird zusätzlich verstärkt, wenn man in den langen, lichtlosen Wintermonaten ankommt. Hilfe, Berlin!?

Keine Sorge, Berlin kann fast jeder lernen, siehe Punkt 2 bis 10, vorausgesetzt, der Immigrant ist nicht allzu zartbesaitet oder nationalkonservativ. Ansonsten geht der Schock schnell vorbei. Dafür muss man nichts tun außer – durchhalten. Versprochen: Schon nach ein paar Monaten sitzt der Neuberliner mit Besuch aus der Provinz in der U-Bahn, ein Betrunkener übergibt sich, und der Neuberliner verkündet mit verhaltenem Stolz dem geschockten Gast: „Dit is Berlin.“

2. Trotz Imageproblemen eine echte Hilfe: der Nahverkehr

Vielleicht klingt es trivial, aber eines der Hauptprobleme für Neuankömmlinge ist die Größe der Stadt. Mit 890 Quadratkilometern ist sie noch etwas größer als New York, beherbergt aber nicht einmal halb so viele Einwohner. Als Erstes müssen Neuberliner die Fläche also in verdaubare Häppchen zerlegen, die meisten erledigen das gleich in den ersten Tagen per U- und S-Bahn-Plan. Und eigentlich ist es einfach: Egal wohin man will, es dauert stets 45 Minuten.

Wer nicht gerade in einem Randbezirk wohnt, kann am Anfang getrost alles außerhalb des S-Bahn-Rings ausblenden – und sich auf Tarifzone A und seine Berliner Bürgerpflicht Nummer eins konzentrieren: bei jeder Gelegenheit die Vor- und Nachteile der Gegenden innerhalb des Rings durchzuhecheln. Ob Prenzlauer-Berg-Mütter oder das Comeback von West-Berlin – Neulingen ist geboten, sich schnell eine fundiert klingende Meinung zu diesen Quartieren zuzulegen, etwa: „Prenzlauer Berg ist so durch, da kann man fast wieder hinziehen“ oder: „Ach, Moabit, so schön normal, da gibt es ja sogar alte Menschen!“ Von wegen berüchtigte Kiezmentalität: Auch das eigene Viertel wird kritisch begutachtet. Taugt es nicht mehr, wird umgezogen.

Prinzipiell gilt: Obwohl Berlin seit 13 Jahren in Großbezirke wie Friedrichshain-Kreuzberg oder Charlottenburg-Wilmersdorf aufgeteilt ist, redet der Berliner immer noch über die Stadt in den Grenzen von 1920 bis 2001, als diese Bezirke noch getrennte Wege gingen und Prenzlauer Berg kein Stadtteil von Pankow war. Wer im Kiezfachsimpeln wirklich auftrumpfen will, lernt ein paar alte Zustellbezirke, die die Post mit ihrer Leitzahlenreform (Fünffingerrolf!) endgültig abschaffte. Für Anfänger reicht es zu wissen, das SO36 vor der Wende das wilde Kreuzberg war, 61 das nette. Fortgeschrittene fragen mal beim Small Talk in die Runde, ob jemand noch weiß, welcher Bezirk mit 1000 Berlin 44 gemeint war – und antworten dann selbst triumphal „Neukölln“.

3. Öffentlicher Sex gehört zum Lokalkolorit. Toleranz auch

Neuankömmlingen kann es vorkommen, als sei Berlinern fast alles egal. Denn diese schauen höchstens aus den Augenwinkeln hin, wenn an einem kalten Herbstmorgen ein bloß mit Schottenrock und Badelatschen bekleideter Hüne vorbeischlendert. Auch Geschlechtsverkehr im öffentlichen Raum ist nichts Ungewöhnliches, wie Boris Johnson, der Bürgermeister von London, mit einer gewissen Bewunderung vergangenes Jahr in einem Gastbeitrag für den „Telegraph“ über das Erfolgsmodell Berlin vermerkte.

Was sich nach Ignoranz anfühlt, lässt sich auch als traditionelles, preußisches Laisser-faire deuten. Die Herrscher in und um Berlin lockten seit jeher Menschen in den unwirtlichen Osten, indem sie Freiheiten in der Art „arm, aber sexy“ versprachen. 1685 erließ der Große Kurfürst Wilhelm das berühmte Toleranzedikt, das Tausende Hugenotten aus Frankreich in die Stadt brachte, sodass sie im Jahr 1700 mehr als ein Fünftel der Berliner Bevölkerung stellten. Später erlaubte Friedrich II. den Katholiken demonstrativ, nah „seiner Oper“ die St.-Hedwig-Katherale zu bauen, die erste katholische Kirche Preußens. „Die Religionen Müßen alle Tolleriret werden. Hier mus ein jeder nach Seiner Faßon Selich werden“, formulierte er.

Die Staatsdoktrin des Alten Fritz ist immer noch Stadtdoktrin, auch wenn sie sich eher auf Aussehen und Sexualpraktiken als auf Religion bezieht. Ob Alien oder Hasenkostüm, hier fällt niemand komisch auf. Gilt auch, wenn Gottschalk oder Clooney am Nachbartisch sitzen (Wenn Sie Glück haben, übernimmt Letzterer sogar Ihre Rechnung). Ausnahme: Es fällt dem richtigen Menschen zur richtigen Zeit der richtige Witz ein, so wie jüngst im Wagen der Linie 1, als ein Mann seinen Freund mit Hundehalsband Gassi führte. Alle taten, als sei der Herr auf allen vieren nichts Besonderes – bis der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung einstieg und laut sagte: „Was bist ’n du für ’ne arme Sau.“ Der ganze Wagen lachte.

4. Berlinern den Berlinern überlassen

Niemand muss berlinern können, um in Berlin heimisch zu werden. Das war höchstens zu DDR-Zeiten gefordert, als der Dialekt im positiven Sinne als proletarisch galt. Zugezogene, die heutzutage gleich nach zwei Wochen icke und ditte sagen, wirken eher peinlich, wobei nichts dagegenspricht, nach ein paar Jahren seine Stadt-Zugehörigkeit durch eine seltsame, ortstypische Infinitivkonstruktion zu demonstrieren. Berlinisch korrekt heißt es nämlich: „Ich habe da einen Koffer in Berlin zu stehen.“

Berlinern ist historisch gesehen ohnehin eine ziemlich junge Angelegenheit, bis zum Mittelalter sprach man in Berlin Niederdeutsch, also eine Plattdeutschvariante. Die Bewohner Berlins sind erst ab dem 16. Jahrhundert allmählich zum Hochdeutschen gewechselt, wobei Sächsisch – Meißnisch genannt – die Standards vorgab. Erst nach und nach entwickelten die Berliner eine eigene Sprache, der Linguisten noch anhören, dass darin Sächsisches steckt.

5. …dafür Berliner Schnauze lernen

Der Naturforscher George Forster, der im Jahr 1779 fünf Wochen in Berlin weilte, befand danach, die Stadt sei schön, aber die Berliner und Berlinerinnen seien „verdorbene Brut“. Offenbar gab es damals schon so etwas wie „Berliner Schnauze“, die oft, aber nicht zwingend mit Berliner Dialekt daherkommt. Das Konzept: ungebremst ausdrücken, was man denkt. Das ist im besten Fall lustig, etwa wenn ein alter Computer mit einem „zu verschenken“ Zettel auf der Straße steht – und jemand daneben kritzelt: „Kannste behalten“. Im schlechtesten Fall klingt Schnauze nach Anschnauzen, etwa, wenn die Bedienung im Restaurant den Wunsch nach einem Glas zum Bier kommentiert mit: „Ist hier nicht üblich.“

Keine Angst, das Gemotze ist so harmlos wie ein hupender Süditaliener, es ist einfach landestypischer Reflex. Zum Schnauze-Konzept gehört, dass man zurückmotzen darf – und fürs Motzen oft mit gutem Service belohnt wird. Mehr jedenfalls als für zutrauliches Strahlen. Einfach so Fremde in öffentlichen Verkehrsmitteln anlächeln wird von Eingeborenen sogar als unhöflich befunden. Fragt man Urberliner, warum ihresgleichen morgens denn so grummelig dreinschaut, hört man: „Ich will doch meine Ruhe haben.“

Als Erfinder des Berliner Humors gilt übrigens Friedrich II., über dessen Witz Hunderte Anekdoten kursieren. So soll er einem Marquis erzählt haben: „Man spricht so viel darüber, dass wir Könige das Ebenbild Gottes auf Erden sind. Darauf habe ich mich im Spiegel besehen und muss sagen: desto schlimmer für Gott!“ Tatsächlich lief der König auf seine alten Tage offensiv uneitel mit zerschlissener, von Tabak besudelter Uniform herum – womit man ihn auch als Begründer des Berliner Stils feiern kann.

6. Bloß nicht zu elejant aussehen

Auch wenn die Smoking-Dichte bei offiziellen Anlässen in den letzten Jahren nachweislich zugenommen hat: Die wenigen, die sich noch trauen, Berlin zu kritisieren, behaupten, dass die Frottee-Anzug-Trägerin Cindy aus Marzahn ein akkurates Abbild des Durchschnitts-Hauptstädters sei. Die polyglotte Publizistin Angelika Taschen wiederum hat die Mitte-Hipster im Blick, wenn sie die ortstypischen Gepflogenheiten in ihrem Buch „Berliner Stil“ etwas freundlicher als „Anti-Chic“ umschreibt. Heißt: Wer in Berlin nicht dauerhaft overdressed sein möchte, muss sich eifrig bemühen, nach wenig Mühe auszusehen. Also: wenn Cocktailkleid, dann bitte mit Springerstiefeln. Wenn Sakko, dann aber mit Rockband-T-Shirt. Kein Wunder, dass es in der ganzen Stadt nur eine anständige Reinigung gibt.

7. Sogar Krokodil: Die Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten

Nicht nur optisch hat der Berliner gern Potenzial nach oben. Generell schätzt man in der Stadt das Unfertige, die Möglichkeit zur Möglichkeit. Wie Gruppendiskussionen mit Berlinern zeigen, werden insbesondere die Lokalpatrioten nicht müde, Berlin mit vielen Superlativen als Stadt zu beschreiben, in der alles geht, sei es die seltsamsten Dinge zu verzehren („sogar Krokodil“), Sexualität jeder Art zu erleben („da gab’s eine Prostituierte mit Holzbein“) und zugleich in der „jrünsten Stadt überhaupt“ zu wohnen. Einwände gegen Berlin gilt es, stets mit Verweis auf das spezielle Potenzial der Stadt wegzubügeln. Berlin rangiert in der Kriminalstatistik weit oben? Dafür ist man Großstadt. Zu viele Touristen? Aber Berliner haben doch auch viel davon. Graffiti? Schreckt Spießer vom Einwandern ab.

8. Ein Schuss Selbstüberschätzung gehört dazu

Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung hat just 2000 Berliner zu ihrer Stadt befragt und herausgefunden, dass 59 Prozent „gern“ und 37 Prozent sogar „sehr gern“ dort leben – obwohl mehr als die Hälfte eher oder sehr unzufrieden mit der Politik der Stadt ist. Die Forscher erklären sich die trotzige Zufriedenheit mit etwas, das sie „Liga Logik“ nennen. Berlin und die Berliner, so ihr Schluss, genügten sich selbst. Man vergleiche sich höchstens mit Londonern, Parisern und New Yorkern. Auch wenn diese Städte in allen denkbaren Kennziffern vorne lägen, gefühlt gehöre man als Berliner dazu. Merke: Wer Berlin lieben will, muss glauben, er bewege sich in der City-Champions-League. Mottos: „Uns kann keener“ und „Ich bin ein Metropoliner“.

9. Es gibt sie noch, die echten Berliner

Wer beim Bier auf der Admiralbrücke sitzt, könnte glauben, dass Berlin nur noch von spanischen Austauschstudentinnen und finnischen Webdesignern bevölkert wird. Falsch. Bei der Hertie-Studie gab die Hälfte der Befragten an, in Berlin geboren zu sein. Ein Drittel zog vor mehr als zehn Jahren nach Berlin, der Rest danach. Wer es mit besonders vielen Ur-Berlinern zu tun bekommen will, könnte an den westlichen Stadtrand nach Spandau ziehen. In dem Bezirk gaben sich 67 Prozent der Befragten als gebürtige Berliner zu erkennen, die Hertie-Studie identifizierte ihn als „Hotspot of Happiness“. Allerdings meinen manche Berliner, Spandau gehöre nicht wirklich zu Berlin. Die Spandauer wiederum verweisen darauf, es heiße eigentlich „Berlin bei Spandau“, denn ihr Bezirk sei viel älter als der Rest der Stadt. Das ist aber wirklich Wissen für Fortgeschrittene.

10. Berlin kriegt jeden rum

Das berühmteste und heute noch häufig zitierte Anti-Berlin-Pamphlet stammt aus dem Jahr 1910, trägt den Titel „Berlin. Ein Stadtschicksal“ und stammt vom Kunsthistoriker Karl Scheffler. Der gebürtige Hamburger, der mit Anfang 20 nach Berlin umsiedelte, erzählt darin äußerst kritisch die Geschichte Berlins und kommt zum Fazit, seine Wahlheimat sei immer noch „eine Kolonialstadt“, verdammt, „immerfort zu werden, niemals zu sein“. Zwanzig Jahre später schrieb er das Werk komplett um und zeichnete die Berliner viel freundlicher. Im Vorwort gab er zu, er sei inzwischen „zu einem Bürger der Reichshauptstadt geworden“. Hatte er 1910 noch das Fehlen katholischer Heiterkeit beklagt, so lobte er später als einen „der größten Vorzüge der Berliner, dass sie imstande sind, sich selber ironisch zu nehmen“. Geht doch.

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